Hildegard, 55, Kauffrau im Einzelhandel, Sachsen-Anhalt
Ich betrachte das Leben als Geschenk
Ich weiß, wo ich herkomme: aus ärmlichen Verhältnissen. Zu Hause waren wir vier Kinder, ich die Älteste, die Eltern geschieden. Wir lebten in der Chemieregion Bitterfeld, die Luft dreckig, das Atmen fiel schwer. Kohlebröckchen lagen oft auf dem Fensterbrett. Weiße Wäsche rauszuhängen, ging gar nicht, die war abends grau. Nicht jede Woche, nein, jeden Tag mussten wir den Pfennig umdrehen. Und das nicht einmal, sondern dreimal. Und so wusste ich ganz genau, am Monatsende gibt es Butterschnitte.Wir waren so arm, dass ich an Klassenfahrten hätte nicht teilnehmen können, wenn meine Mitschüler nicht das Geld eingesammelt hätten. Hinzu kam, dass wir unsere jüngste Schwester, die geistig behindert ist, mit zu versorgen hatten. Mein Tagespensum hatte es in sich: Morgens um 5 Uhr stand ich auf, frühstückte, lief in die Schule, kam zurück und behütete meine behinderte Schwester. Ich fiel abends tot ins Bett. Entlastet wurde ich, als die Schwester in ein Pflegeheim kam. Bereits in jungen Jahren prägte mich das Leben. Ich schwor mir, nie so zu leben. Alles wollte ich tun, um das meinen eigenen Kindern später zu ersparen. Ab diesem Zeitpunkt nahm ich mein Leben selbst in die Hand. Da ich die 10. Klasse mit dem Prädikat „gut“ abschloss, hätte ich mir einen attraktiven Beruf auswählen können. Aber ich machte das, was sich viele junge Leute heute nicht mehr vorstellen können: Ich lernte Fleischfachverkäuferin in einer kleinen privaten Fleischerei einige Kilometer entfernt von zu Hause. Hauptsache weg von Bitterfeld. Mit meinem Lehrmeister, einem großen und kräftigen, aber vor allem strengen Mann, eckte ich ständig an. Denn, ich wollte mehr lernen, war wissbegierig und ungeduldig, hatte den Drang, mehr zu leisten. Er war genau, legte Wert auf Ordnung und Sicherheit. Was er mir beibrachte, das ging mir alles zu langsam. Gelernt habe ich in dem Beruf trotzdem verdammt viel. Weitaus mehr Spaß machte mir hingegen, mich mit den Kunden beim Verkauf zu unterhalten. Das war meine Welt! Meine dreijährige Lehrausbildung beendete ich mit „Sehr gut“. Just zu der Zeit wurde händeringend eine Lehrausbilderin gesucht. Ich meldete mich und bildete mit 19 Lenzen Lehrlinge aus. Doch ich brauchte etwas für den Kopf und wagte mich an ein Lehrausbilderstudium heran. Es sah zunächst so aus, als ich ob ich auf der berühmten Siegerstraße bin. Denkste, Pustekuchen! Bei der Aufnahmeprüfung zum Studium fiel ich durch. Nicht etwa der schlechten Noten wegen, nein. Meine Stimme spielte nicht mit – ich wurde beim Erzählen schnell heißer. Für mich brach eine Welt zusammen. Die Mitarbeiterin in der Kaderabteilung holte mich aus dem seelischen Tief heraus. Sie schlug mir ein fünfjähriges Fernstudium der Ökonomie vor, da bräuchte ich nicht so viel zu reden.
Hildegard schließt das Studium erfolgreich ab.
Mitten in unser Idyll platzte die Wende hinein. Die Ereignisse in Leipzig und erst recht die vom 9. November 1989 verfolgte ich im Fernsehen interessiert. Bei mir machte sich ein Gefühl der Unsicherheit breit.Wie um Himmels Willen geht es weiter? Doch letzten Endes spielte das keine Rolle – die Euphorie, die Aufbruchstimmung fegte alle Sorgen und Probleme förmlich hinweg. Die bisherige Verteilgesellschaft im Konsum wird es nicht mehr geben, das war mir sofort klar. Von daher hieß es, die Flucht nach vorn antreten und das Beste daraus machen. Das Negative in positive Energie umwandeln - das war meine Überlegung. Ich bewarb mich bei einem Handelsunternehmen aus dem Westen, das es in den Osten verschlagen hatte. Da es aber in unserer Stadt kein geeignetes Gebäude fand, wurden kurzerhand auf einer großen Freifläche Zeltstangen aufgestellt, eine Plane darüber gespannt und schon ging es los mit dem Verkauf. Für 30 Kollegen war ich als Filialleiterin verantwortlich. In der Woche hieß das Tag für Tag: 5 Uhr aufstehen, 6 Uhr Tochter im Kindergarten abgeben, 7 Uhr im Zelt die Lieferungen der Waren annehmen, die Waren einräumen, 8 Uhr Öffnen der provisorischen Verkaufsstelle. Und, was soll ich sagen: Wir verkauften wie die Weltmeister, abends waren fast alle Produkte weg, das Zelt war nahezu leer. Ein geradezu traumhafter Umsatz. Doch das ging natürlich nicht ewig so. Das Unternehmen zog in eine andere Stadt. Meine Aufgabe war es, allen Frauen die Kündigung auszusprechen. Warten, was passiert, war nicht mein Ding.
Kurzerhand bewarb ich mich bei einem Westhandelsunternehmen, das sich in der Nähe niederließ und familienfreundlich eingestellt war. Da ich bereits Erfahrungen als Filialleiterin vorzuweisen hatte, wurde ich als Abteilungsleiterin eingestellt, danach als Bereichsleiterin. 2011 bot man mir die Geschäftsführung an. Ich war für rund 350 Mitarbeiter verantwortlich.
Traumgehalt 120. 000 Euro Jahresgehalt, 40.000 Euro bar auf den Tisch für eine Einbauküche
Mein hohes Gehalt änderte nichts an meiner Grundhaltung: Ich hebe nicht ab, sondern bleibe mit beiden Füßen auf dem Teppich. Es würde mir nie einfallen, mit Materiellem zu prahlen. Und das deshalb, weil ich auch andere Zeiten durch habe, ich weiß, wo ich herkomme. Wir merkten in unserem Einkaufscenter sehr schnell, dass die Menschen aus der Region nicht die Welt verdienen, dass viele hart sparen und den Cent dreimal umdrehen müssen. Wie sich der Sparzwang anfühlt, das weiß ich sehr gut. Zu DDR-Zeiten hatten mein Mann und ich kein Auto, das Geld fehlte an allen Ecken und Enden. Ich weiß also gar wohl, wie es ist, kaum etwas im Portemonnaie zu haben. Ich achte das Geld und schmeiße nicht um mich nach dem Motto: Was kostet die Welt! Mit Geld protzen, mochte ich noch nie. Aber es stimmt schon, der Neid ist groß geworden, riesengroß sogar. Ich musste mit diesem Negativzustand umgehen lernen, ähnlich wie man das Einmaleins erlernt. Dabei stellte ich fest, dass unser Freundeskreis kleiner geworden ist. Einige konnten es nicht ertragen, dass ich so viel Geld bekomme. Auf einer so vergifteten Basis hält meinen keinen Kontakt. Es schmerzte mich und meinen Mann, Freunde zu verlieren. Verstehen können wir das nicht, wie man so neidisch sein kann. Dabei hätte doch jeder die Chance nach dem beruflichen Aufstieg ergriffen, ich muss mich dafür nicht rechtfertigen. Wie aber soll man Menschen beurteilen, die ein schmuckes Eigenheim besitzen, sich nach der neuesten Mode kleiden, einen toll hergerichteten Garten besitzen und mehrmals im Jahr in den Urlaub fahren? Obwohl es ihnen materiell gut geht, jammern sie trotzdem herum. Wer soll das verstehen? Es ist nachzuvollziehen, wenn Menschen aus dem Westen dann von Jammerossis reden. Ich verwende dieses Wort allerdings nicht, denn ich versuche, hinter die Kulissen zu schauen. Dabei stelle ich wiederholt fest, dass diese Menschen oftmals allein sind. Sie haben keine Ziele mehr, sind nicht mehr neugierig auf das Leben. Bei einem Psychiater auf der Couch liegend, würden sie das möglicherweise erkennen. Aber so eben nicht. Und so leben sie dahin, streben nach Geld, Erfolg und Macht ganz nach dem Motto: „Mein Haus, mein Auto, mein Boot.“ Wenn man sie damit konfrontieren würde, sie würden abstreiten, nach diesem Slogan zu leben. Es ist gelinde gesagt die blanke Gier nach Besitztum, das hemmungslose Begehren, das maßlose Verlangen nach Reichtum. Doch ich vergesse nie, was mir meine Mutter auf dem Weg ins Leben sagte: „Gier frisst Hirn“. Und zumeist im gleichen Atemzug ergänzte sie: „Denke daran, mein Mädchen, Geld macht nicht glücklich.“ Wenn man so erzogen wurde, dann prägt einen das. Doch ich denke, es gibt durchaus Menschen, die das vergessen und eiskalt erwidern: „Geld stinkt nicht.“ Ich glaube, dass diese Menschen nicht bereit sind, sich zu verändern, sie haben sich gedanklich eingerichtet. Ich finde das schade, denn ich halte es viel lieber mit Peter Ustinov, der mal sagte: „Sinn des Lebens, etwas, das keiner genau weiß. Jedenfalls hat es wenig Sinn, der reichste Mann auf dem Friedhof zu sein.“ Also sage ich mir immer wieder, lebe dein Leben, es ist viel zu kurz. Die Gewinner der Wende tun das, die meisten jedenfalls. Mit den Verlierern der Wende ist es schon schwieriger, sie fühlen sich benachteiligt. Ich kenne viele von ihnen, die zu DDR-Zeiten ein hohes Einkommen hatten und prima ihr Dasein bestritten, die studierten, aber nun in ein seelisches Loch fielen. Entweder haben sie keine Arbeit oder werden schlecht bezahlt. Für die Verlierer/Gewinner-Kategorie war oftmals das Alter entscheidend, das man zur Wende hatte. Ich fühle mit denen, die nicht den Sprung schafften. Aber ich sage auch: Niemand kann das ändern. Niemand! Nur derjenige selbst. Ich kann mich im Schlamm der Niederlage herumsuhlen und mich bedauern oder ich raffe mich auf und mache was aus meiner Existenz. Das klingt vielleicht hart, zugegeben. Aber bitte, niemand möge mich dafür verurteilen, ich stehe auf keinem Podest und lasse kluge Sprüche ab. Ich vergesse meine Herkunft nicht, meine ärmlichen Verhältnisse. Ich hatte eben mit meinem Alter Glück zur Wende und war zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle.
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